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Hall im Jahre 1868
- die Polizei drückt beim „Hurengewerbe“ beide Augen zu -
von Otto Windmüller
In historischen Quellenbeständen finden wir nur selten Hinweise über tabuisierte Themen. Glücklicherweise blieb im Staatsarchiv Ludwigsburg im Bestand F 171 (Oberamt Hall) unter der Rubrik „Sittenpolizei“ ein Schriftstück erhalten, das über die Prostitution in Hall berichtet. Am 11. Febr. 1868 klagte das Oberamt Hall - ein Vorläufer des Landratsamts - beim Stadtschulheißenamt Hall über die sittlichen Missstände in der Stadt:
In den letzten Wochen sind hier Anzeigen gemacht worden, dass eine größere Anzahl lediger Weibspersonen mit ihrem Körper ein unsittliches Gewerbe treiben und sind auch diese Personen sämtlich wegen gewerbsmäßiger Unzucht, teilweise wegen Rückfalls in dieses Vergehen, bestraft worden. Die nächste Veranlassung zum Einschreiten hat die gerichtliche Untersuchung gegen die Louise G. von hier wegen gewerbsmäßiger Kuppelei gegeben. Obgleich nun seit 1 ½ Jahren das Treiben der G. stadtbekannt war, ist von Seiten der Polizei nicht bälder eingeschritten worden, als bis eine dieser Dirnen sich selbst und die G. bei der Polizei denunziert hat. Als nach Aufhebung der G’schen Wirtschaft der Schuhmacher Janle das Hurengewerbe in noch schamloserer Weise und ganz öffentlich längere Zeit betrieben hat, ist nicht einmal auf die Beschwerde der Mithausbewohner von Seiten der Polizei etwas zur Unterdrückung dieses Treibens geschehen.
Die oben angeführten Fälle sind übrigens nicht die einzigen, welche Zeugnis von der Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit der Polizei geben. Es ist längst und allgemein bekannt, dass die Wirtschaft der Witwe B. am Roten Steg allen schlechten Dirnen zum Aufenthalt dient und dass es dort wo möglich noch liederlicher zugeht, als es bei der G. und Janle der Fall war. Sollte die Polizei allein hievon noch nichts gehört haben? Weiteres öffentliches Ärgernis gibt der Stand der Obsthändlerin Ließ auf dem Unterwöhrd, von welcher man nicht nur beim Vorübergehen die obszönsten Reden hören kann, sondern bei der sich auch die liederlichen Dirnen aufhalten, so dass der Verdacht nahe liegt, sie vermittle die Gelegenheit zur Prostitution.
Es ist eine Schade für die Polizei einer Stadt wie Hall, dass sie solche schamlosen Dinge tagtäglich hören und sehen kann, dass sie solches Treiben so lange Zeit duldet, ohne dagegen einzuschreiten. Man erwartet von dem Stadtschultheißenamt bei einer Verantwortlichkeit des Vorstandes, dass es künftig solchen Missständen energisch zu Leibe geht und dass es namentlich das Polizeipersonal zu größerer Energie und Aufmerksamkeit anhält. (Anm. hinter G. und B. verbergen sich Namen, die noch heute in Hall verbreitet vorkommen.)
Es ist schon bemerkenswert, dass das „horizontale Gewerbe“ in einer Kleinstadt wie Hall mit ca. 7000 Einwohnern derart verbreitet gewesen sein soll - und dies inmitten der Stadt. Bei näherer Betrachtung des historischen Umfeldes wird aber vieles klarer:
Wenige Jahre zuvor war der Anschluss an das württembergische Eisenbahnnetz erfolgt. Dies hatte in mehrfacher Weise eine „Verkehrsbelebung“ zur Folge.
Durch die aufkeimende Industrie entstand ein Arbeiterproletariat, das nach einem harten Arbeitstag „Abwechslung“ suchte - und wohl auch mancher wandernde Handwerksgeselle nahm derartige „Dienste“ gerne in Anspruch.
Das Haller Solbad zog viele Kurgäste an. Sie mögen wohl in erster Linie an der Verbesserung ihrer Gesundheit interessiert gewesen sein. Gegen eine gewisse „Entspannung“ und „Abwechslung“ hatte der eine oder andere aber gewiss nichts einzuwenden.
Die Gruppierung der Etablissements um das Haller Solbad lässt vermuten, dass gerade die vermögenden Kurgäste zahlungskräftige und dadurch willkommene „Kunden“ waren. Warum sollte dann die Polizei und die Verwaltung in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten diese Geldquelle für soziale Unterschichten zum Versiegen bringen? Hätten diese ihren Unterhalt nicht selbst bestreiten können, wäre die Stadt oder das Hospital verpflichtet gewesen, sie zu unterstützen.
Zu jener Zeit vieles war anders. Die Polarisierung der Auffassungen zu dem Thema ist aber bis heute geblieben: Die einen sehen sich als Verfechter der Sittlichkeit und der Moral, die anderen arrangieren sich mit den Gegebenheiten.