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Gräter als Revolutionär 1848/49

in: Franz Gräter (1797 - 1861) - Literat und Revolutionär

Vorbemerkung:

Der nachfolgende Aufsatz erschien im Rahmen eines Begleitheftes des Hällisch-Fränkischen Museums Schwäbisch Hall anlässlich der Ausstellung zu Franz Gräter.

Die Organisation und Konzeption der Ausstellung sowie des Begleitheftes geschah unter der Leitung von Museumsleiter Dr. Armin Panter.

Inhalt und weitere Autoren des Begleithefts

Peter Hubert

Kindheit und Jugend 1797 - 1816

Peter Hubert

Burschenschaftler - Revolutionär - Staatsverbrecher 1816 - 1826

Rudlieb Gräter

In Amerika 1826 - 1842

Peter Hubert

Rückkehr 1842

Ingeborg Forssmann

Tagebuchaufzeichnungen 1840 - 1845

Otto Windmüller

Revolutionär 1848/49

Herta Beutter

Ein Fall für die Haller Armenfürsorge 1845 - 1861

Anhang
Lore Stützel Ahnen Franz Gräters

Ingeborg Forssmann

Franz Gräters Familie

Revolutionär 1848/49

von Otto Windmüller

In der Zeit des Vormärz, also zwischen den Napoleonischen Kriegen und der Märzrevolution 1848, wurde in Tübingen eine Reihe von jungen Leuten ausgebildet, die herausragende Fähigkeiten besaßen. Sie waren geprägt von der Aufklärung und der Freiheitsbewegung und wollten eine Demokratisierung der Gesellschaft. Damit gerieten sie aber in Opposition zum monarchischen württembergischen Obrigkeitsstaat. König Wilhelm ließ sie verhaften, einkerkern, und nicht selten trieb er sie mit seiner Politik zur Auswanderung. Auf diese Weise verlor Württemberg eine Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten, die aktiv für demokratische Veränderungen eintraten und für Staat und Gesellschaft Impulse hätten geben können. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung keimte bei diesen Personen Hoffnung auf, als 1848 eine revolutionäre Bewegung ganz Europa überzog. Nun schien sich ihr Traum von der Freiheit doch noch zu verwirklichen. Nicht wenige dieser Personen, die fast ausnahmslos interessante Biographien haben, setzten sich an die Spitze der Revolution. Doch die militärische Niederschlagung der Volksbewegung sollte sie allesamt enttäuschen.

Einer dieser Demokraten war Franz Gräter. Er wurde in 1797 in Öhringen geboren. Die Haller Siedersfamilie siedelte jedoch schon bald nach seiner Geburt nach Hall über. Dort besuchte er das Gymnasium St. Michael. 1816 begann er in Tübingen mit dem Studium der Theologie und später der Medizin.[1] Geprägt von den Befreiungskriegen gegen Napoleon schloss, er sich der Burschenschaft an und gehörte bald zu deren Führungsspitze. 1817 nahm er mit der Tübinger Delegation an verschiedenen Burschenschaftsfesten teil und demonstrierte unter den Farben „schwarz-rot-gold“ für die nationale Einheit sowie die Demokratisierung der Gesellschaft. Die Monarchen versuchten diese Freiheitsbewegung zu unterdrücken und leiteten mit den Karlsbader Beschlüssen die Demokratenverfolgung ein. Doch Gräter blieb seiner politischen Auffassung treu. 1824/25 verurteilte man ihn wegen „politischer Umtriebe“ zu vier Jahren Festungshaft auf dem „Demokratenhügel“ Hohenasperg. Bereits wenige Monate nach Haftantritt gelang es ihm, eine Haftverschonung zu erreichen - allerdings mit der Auflage, daß er in die USA auswandere.[2] Dies war zu jener Zeit gängige Praxis, denn für den württembergischen Staat entfielen somit die Kosten für die Inhaftierung, und die Oppositionellen waren zumeist für immer abgeschoben.

So verließ Gräter 1826 nicht ganz freiwillig Württemberg. In den USA angekommen, unternahm er mit knapp 30 Jahren den Versuch, eine neue Existenz aufzubauen. Zunächst schien alles gut zu gehen. Er wurde Schriftsteller, bekam einen Lehrstuhl an der Harvard Universität und wirkte bei der Landvermessung in den USA mit. 1834 heiratete er eine Amerikanerin und wurde Vater von drei Kindern. Dieses scheinbare Glück hatte aber Schattenseiten. Die Familie seiner Frau akzeptierte ihn nicht, und er hatte wirtschaftliche und gesundheitliche Probleme. Zu Beginn der 1840er Jahre bot sich für ihn und seine Familie ein Ausweg an.

Offenbar hatte Gräter erfahren, dass 1841 der Württembergische König Wilhelm anlässlich seines 25 jährigen Regierungsjubiläums eine Amnestie erlassen hatte. Er musste also bei einer Rückkehr nach Württemberg nicht mit einer Verhaftung rechnen. 1842 verließ er mit Frau und Kindern die USA und reiste als freier Mann nach Württemberg ein. Er gab an, die “Sehnsucht nach der Heimath, Hoffnung zweckmäßiger Beschäftigung, geschwächte Gesundheit und der Wunsch, seinen Kindern eine deutsche Erziehung geben zu können...“ hätten ihn zu diesem Schritt bewogen.[3]

Die Kosten für die Überfahrt zehrten sein gesamtes Vermögen auf. Bei der Ankunft war die Familie „von allem entblößt und ohne Subsistenzmittel“. Er kehrte allerdings nicht nach Hall zurück, sondern nach Stuttgart. Dort wollte er eine Buchhandlung übernehmen, was sich aber zerschlug. Zudem waren für einen freien Schriftsteller die Beschäftigungsmöglichkeiten in Stuttgart weitaus besser als in Hall. Obwohl ihn Freunde unterstützten und ihm literarische Arbeiten verschafften, gelang es ihm nicht, Fuß zu fassen. Er konnte gerade den Lebensunterhalt für sich und seine Frau aufbringen. Die Kinder brachte man nach Korntal. Ob die finanziellen Schwierigkeiten ursächlich mit seinem übermäßigen Alkoholkonsum in Zusammenhang standen, lässt sich nicht exakt belegen. Aus einem Schreiben der Stadtdirektion Stuttgart ist aber zu entnehmen, dass er bald nach seiner Rückkehr dem „Müßiggang und Trunk“ ergeben gewesen sei.[4] In dieser Lage hatte er Kontakt mit Hall aufgenommen und der Stadtrat beschloss „..in Beherzigung der über ihn ergangenen verschiedenen Geschike...“ die unentgeltliche Wiederaufnahme ins Bürgerrecht.[5] Dennoch blieb er zunächst weiterhin in Stuttgart, wo man ihm aber mehrmals einschärfte, dass er dort nur bleiben könne, wenn er „arbeitsam und nüchtern“ sei. Zu Beginn des Jahres 1844 verlegte er wohl nicht ohne Druck der Stadtdirektion Stuttgart seinen Wohnsitz nach Hall.

Als er hier angekommen war, musste er aber bald erkennen, dass sich die Bedeutung der Stadt und die wirtschaftliche Situation seit seiner Jugend wesentlich verändert hatten. Die einst reichen Erträge der Saline sprudelten nicht mehr wie in der Vergangenheit, denn neue Konkurrenten waren auf dem Salzmarkt aufgetreten. Ebenso hatte das städtische Handwerk Einkommensrückgänge durch die zunehmende Verbreitung industriell gefertigter und damit preisgünstiger Waren zu verzeichnen. Hinzu kamen die Agrarkrisen von 1843 und 1846, die die Kaufkraft weiter schwächten und nicht nur die städtischen Unterschichten trafen. So kamen auch ehemals wohlhabende Handwerker oder Siederfamilen in Existenznot.[6]

Ähnlich erging es Franz Gräter und seiner Familie. Mit seiner schriftstellerischen Arbeit konnte er in Hall seine Familie noch weniger ernähren als in Stuttgart. Deshalb gab er Privatunterricht in Englisch. Da auch dieses Einkommen nicht hinreichte, unterstützte ihn und seine Familie die städtische Armenfürsorge, der Spital. Ansehen genoss der Demokrat, der sich in seiner Jugend offen gegen den König gestellt hatte, zumindest im bürgerlichen Lager, sehr wenig. Vielleicht aber bei einigen politisch Gleichgesinnten, die ihre Überzeugung in dem repressiven System aus verständlichen Gründen nicht preisgaben. Somit ist es auch nicht überraschend, dass er im gesellschaftlichen Leben der Stadt nicht in Erscheinung trat. Dies sollte sich bald ändern.

1847 war die Unzufriedenheit der Bevölkerung - nicht nur der Demokraten - sehr groß. Der Haller Oberamtmann sprach von einer „Gärung“, befürchtete Hungerkrawalle und alarmierte die Bürgerwehr. Auch politisch hatten die Bürger immer weniger Angst, ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Auf Versammlungen zu Ende des Jahres forderten sie eindringlich Reformen in Staat und Gesellschaft. Die meisten waren aber nicht für die Abschaffung der Monarchie, wie Gräter es forderte, sondern für Veränderungen im bestehenden Staatssystem.[7]

Diese Bewegung bekam neue Nahrung durch die revolutionären Ereignisse, die sich im Februar 1848 vollzogen. Wie ein Lauffeuer verbreiterte sich die Kunde vom Sturz der Monarchie in Frankreich. Über Baden griff die revolutionäre Stimmung auch auf Württemberg über. Bereits am 2. März 1848 beriefen Haller Bürger auf den folgenden Tag eine Volksversammlung ein. Initiatoren waren aber nicht die radikaleren Demokraten, zu denen auch Gräter gehörte, sondern das bürgerliche Lager. Zu der Veranstaltung fanden sich einige hundert Haller ein und forderten neben Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit die Volksbewaffnung, die Einführung von Schwurgerichten und die Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments. Ebenfalls verfassten sie eine Bittschrift an König Wilhelm, in der sie den dringenden Wunsch äußerten, dass eine Ständeversammlung die dazu erforderlichen Gesetze zügig verabschieden solle. Wenn auch Franz Gräter und den anderen Haller Demokraten diese Forderungen nicht weit genug gingen, unterzeichneten sie dennoch diese Resolution.[8] Obwohl der König in den nächsten Tagen sämtliche Forderungen erfüllte, kam die Volksseele nicht zur Ruhe. Der zunehmende Druck der Straße veranlasste den Stadtschultheißen und die auf Lebenszeit gewählten Stadträte, ihre Ämter zur Verfügung zu stellen. Fast täglich fanden Versammlungen in Gasthöfen oder auf dem Marktplatz statt, bei denen über die neuesten Vorgänge in Baden oder Berlin berichtet wurde. Geleitet wurden sie nun nicht mehr vom bürgerlichen Lager, sondern von  reformfreudigeren Männern wie Pfarrer Helfferich und den Gymnasiallehrer Theodor Rümelin. Aus einer Leserbriefserie geht hervor, dass Gräter bei diesen Zusammenkünften häufiger das Wort ergriff und forderte, dass die bisherigen Veränderungen nur ein Anfang sein könnten, der König gestürzt werden müsse und die Republik die beste Staatsform sei. Die Anhänger der konstitutionelle Monarchie konterten in einem anonym verfassten Leserbrief, der nicht auf die Argumente von Gräter einging. Vielmehr verwiesen auf seine Biographie: „Auch liegt uns in hiesiger Stadt der Fall vor, dass ein langjähriger Insasse des nordamerikanischen Freistaats alsobald, wie die Umstände seine Rückkehr von da möglich machten, die Republik, unter der man doch so glücklich und frei lebt, verließ und der Heimat zueilte. Der Ruf: es lebe die Republik! hört man auch sehr häufig von ihm, allein die Thatsache der Rückkehr von da verleiht seinem Ruf wahrlich kein sonderliches Gewicht, er scheint an dem Leben in der dortigen Republik keinen dauernden Geschmack gefunden zu haben.“ [9]In seiner Antwort versuchte Gräter aufzuzeigen, dass es in Republiken wie der Schweiz, den USA oder auch Frankreich weniger Blutvergießen gab als unter der Herrschaft der Aristokratie.[10]

Im April 1848 trat Gräter in den Kreis der Aktivisten. Im neu gegründeten „vaterländischen Verein“, der dafür Sorge tragen sollte, dass auch künftig Versammlungen abgehalten werden, war er führend tätig. Deutlich wurde dies er bei den Veranstaltungen zur Wahl der Nationalversammlung, bei denen er als Redner der politischen Linken auftrat.[11] Er setzte sich bei Kundgebungen für den radikalen Gaildorfer Glasfabrikanten Gottlieb Rau ein, der auf mehreren Versammlungen das bestehende Staatssystem heftig attackierte.[12] Obwohl keine Unterlagen für Verbindungen zwischen Rau und Gräter vorliegen, müssen sich beide gut gekannt haben. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten und eine Vorliebe für den amerikanischen Freistaat, den sie als vorbildlich ansahen. Vieles deutet darauf hin, dass Gräter versucht hat, die republikanisch gesinnten Haller zu mobilisieren und noch unentschlossene Bürger auf die Seite von Rau zu ziehen. Wahrscheinlich wurde ein Aufruf am 22. April von ihm allein oder zusammen mit dem Wirt Fritzlin verfasst, wobei alle republikanisch gesinnten Bürger aufgefordert wurden, sich abends in der „Glocke“ zu versammeln. Dabei wollte er die Befürchtung zerstreuen, dass eine Republik gleichbedeutend mit Kommunismus sei. Vielmehr wisse ein jeder, der schon einmal in einem Freistaat gelebt habe, dass dort „das Eigenthum Einzelner mehr und besser geschützt ist, als in jedem andern Staat.“[13] Bei der Wahlversammlung am 24. April in Crailsheim unternahm Gräter den Versuch, den aussichtsreichen Kandidaten Prof. Zimmermann aus Stuttgart zu attackieren, in dem er die Befürchtung äußerte, dass der vaterländische Verein Stuttgart beabsichtige, die regionalen Vereine zu bevormunden. In der Tat kandidierte Zimmermann, ein gewandter Redner und Lehrer an der Polytechnischen Schule, sehr spät für das Mandat.  Im Anschluss an die Crailsheimer Versammlung brachte Gräter im Gasthof Lamm „dem abwesenden Fabrikanten Rau ein Hoch“ aus, das mit „reichem Beifall“ bedacht wurde.[14] Reallehrer Großmann, der ebenfalls in Crailsheim gewesen war, griff Gräter wegen seiner Äußerungen gegen Zimmermann in einem Leserbrief im Haller Tagblatt heftig an.[15] Doch er konterte geschickt, indem er Großmann vorwarf, nur unter Pseudonym zu veröffentlichen und nicht seine wahre Identität preiszugeben.[16]

Nach einem kurzen aber heftigen Wahlkampf im Wahlkreis Hall-Crailsheim-Gaildorf kam es zur Entscheidung. Während Rau in Gaildorf deutlich vor Zimmermann lag, konnte dieser die beiden anderen Regionen für sich entscheiden. Zimmermann wurde mit deutlicher Mehrheit gewählt. Sein Ersatzmann war der Haller Textilfabrikant Weber. Gräter erhielt 14 Stimmen, obwohl er sich nicht hatte aufstellen lassen. Während in Gaildorf von Beeinflussung gesprochen wurde, ging die Wahl in Hall ruhig vonstatten. Allerdings musste der Gemeinderat kurzfristig einberufen werden, um zu entscheiden, ob Gräter überhaupt seine Stimme abgeben durfte. Im Wahlgesetz gab es nämlich einen Passus, der bestimmte, dass derjenige Bürger kein Wahlrecht habe, der öffentliche Unterstützung erhalte. Nachdem Gräter sich verpflichtet hatte, auf seine Unterstützung vom Spital zu verzichten, erhielt er das Wahlrecht.[17]

Nach der Wahl beruhigten sich die Gemüter etwas, und die Flut von Leserbriefen in der Lokalpresse und die öffentlichen Attacken ließen nach. Wilhelm Zimmermann zog als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung für Hall ein und war schnell ein führender Mann der politischen Linken. Franz Gräter wird erkannt haben, dass der Mann, den er noch auf den Versammlungen angegriffen hatte, zusehends auch seine politische Grundhaltung vertrat. Der Frühsommer 1848 war aber insgesamt durch eine zunehmende Radikalisierung geprägt: Ausrufung der Republik in Baden, Straßenschlachten zwischen Aufständischen und Militär in fast allen großen Städten. Dies sollte sich auch auf den vaterländischen Verein Hall auswirken, in dem Gräter immer wieder aufgetreten war. Die gemäßigteren Kräfte, zu denen der Vorsitzende Pfarrer Helfferich gehörte, konnten oder wollten nicht massiver auftreten als in der Vergangenheit. Deshalb kehrten sehr viele dem Verein den Rücken und schlossen sich Ende Juni dem neu gegründeten „Demokratischen Verein“ an, dessen oberster Grundsatz die „Volkssouveränität“ war. Einer der ersten, die dem Verein beitraten, war Franz Gräter. Er gehörte gleich zum Führungsstab. Dies zeigt, dass das Ansehen dieses Mannes in jener Zeit stieg. Er war nicht mehr der alkoholabhängige  Unterstützungsbedürftige, sondern ein Mann mit einer demokratischen Tradition. Schon wenige Tage nach der Gründung des Vereins, fand auf dem Marktplatz eine Versammlung statt, bei der Gräter einen Zeitungsbericht aus der demokratischen Zeitschrift „Der Beobachter“ öffentlich vortrug. Darin wird berichtet, dass kurz vor Ende der Gründungsversammlung des „Demokratischen Vereins Ulm“ 40 Berittene in den Versammlungsort stürzten und mehrere Bürger schwer verletzten oder töteten. Die Haller Versammlung rief in einer Erklärung dazu auf, dass sich die Soldaten von der „Würgerbande“ befreien sollten und die Schuldigen bestraft werden müssten.[18]

Der „Demokratische Verein“, der auch weiterhin mit Aufmerksamkeit die Ereignisse in der Frankfurter Nationalversammlung beobachtete und regelmäßig zu Zusammenkünften aufrief, nannte sich Ende Juli in Anlehnung an andere Vereine „Volksverein“. Obwohl ein neuer Vorsitzender, der Forstassistent Daser, gewählt wurde, gab es in der personellen Zusammensetzung der Führungsriege keine Veränderungen. Die führenden Köpfe blieben Rümelin, Daser und Gräter. Der Haller Verein gehörte zunächst zu den mitgliederstärksten und zu den aktivsten Gruppierungen in Württemberg. Zumindest Daser und Rümelin, wohl auch Gräter, pflegten den Kontakt zu Gottlieb Rau, der sich mittlerweile weiter radikalisiert hatte. Er war im Begriff, bewaffnete Truppen aufzustellen und wollte König Wilhelm stürzen. Auch in Frankfurt spitzte sich die Lage zu: Preußen hatte ohne Zustimmung der Volksvertreter mit Dänemark einen Separatfrieden geschlossen und Schleswig preisgegeben. Zimmermann hielt daraufhin eine kämpferische Rede verurteilte das preußische Vorgehen. [19]

Im September verschärfte sich die Lage erneut und die Volksvereine wollten die Massen mobilisieren. Der Haller Vorsitzende reiste mit einer Delegation nach Heilbronn und mahnte auf der dortigen Versammlung, dass nun nicht gezögert werden dürfte und ganze Taten folgen müssten. Ob Franz Gräter mit in Heilbronn war, muss bezweifelt werden, denn am 11. September 1848 brachte er eine Anzeige im Haller Tagblatt. Darin beklagt er, dass er von seiten einiger Mitbürger „Verfolgungen und Entstellungen“ ausgesetzt sei und sie ihn „anfeinden“ würden. Ziel sei es „seinem Lehrberufe und seiner öffentlichen Mitwirkung ein Ende zu machen“. Dazu würden sie besonders „seine gegenwärtigen Krankheitsumstände“ ausnutzen. Obwohl er wegen seiner Krankheit vom städtischen Spital gegenwärtig Unterstützung erhalte, werde er seine Arbeit in wenigen Tagen fortsetzen, sobald ihm wieder „auszugehen erlaubt“ sei.[20] Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, am 17. September 1848 auf der großen Volksversammlung, bei der ca. 6 000 Menschen auf dem Haller Marktplatz  zugegen waren, das Wort zu ergreifen. Man hätte erwarten können, dass ein gesunder Gräter, der als guter Redner bekannt  war, eine flammende Rede hält. Doch ein Berichterstatter vermeldete, Literat Gräter „war wohl in Form und Gediegenheit der Erste des Tages. In ernster, würdiger Weise in gedrungener Sprache zählte er die Errungenschaften der neuen Zeit auf, nachweisend, daß der größere Teil der vor Monaten geforderten Wünsche des Volkes in Erfüllung gegangen oder bereit sey, ins Leben zu treten. Das was noch fehle“ würde das Volk erlangen, wenn es in seinem Mut nicht nachlasse.[21]  Vielleicht hielt er sich aber auch bewusst zurück, um anderen Rednern die kämpferischen Ansprachen zu überlassen. Ihre Reden wurden von Zwischenrufen wie „Republik hoch“ oder „Hecker hoch“ unterbrochen. Dieser Tag, an dem Gräter vom Balkon des festlich geschmückten Rathauses vor einer derartigen Menschenmenge sprechen konnte, war für ihn der letzte große politische Auftritt. Er trat weder bei den Tumulten wenige Tage später in Erscheinung, noch wurde er bei der militärischen Besetzung Halls inhaftiert. Dies kann nur damit zusammenhängen, dass er schwer erkrankt war. Selbst Personen, die weniger aktiv waren als er, wurden verhaftet, vernommen und teilweise mehrere Wochen auf den Hohenasperg gebracht. Dieses Schicksal blieb ihm im Gegensatz zu 1824 erspart. Zwar wurde er noch 1851 in einem Verzeichnis des Innenministeriums als „Staatsgefährdende Person“ wegen seiner Rede auf der Volksversammlung geführt, doch wurde das Verfahren niedergeschlagen.[22]

In den letzten Jahren seines Leben war er von Krankheit gezeichnet und konnte nur noch bedingt seiner Arbeit nachgehen. Das Alkoholproblem, das er schon lange Jahre hatte, trat zu Beginn der 1850er Jahre wieder auf. Ob dies mit seiner Enttäuschung über die Niederschlagung der Revolution im Jahre 1849 in Zusammenhang steht, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Akten zeigen nur, dass er 1851 auf Weisung der Kreisregierung Ellwangen unter Polizeiaufsicht gestellt wurde. Die zuständige Behörde spricht von „Trunkenheitsexzessen“ und von der „fortwährenden Belästigung des Publikums durch Schuldenmachen“. Die Kontrolle ging so weit, dass er sich vor jedem Verlassen der Stadt bei der Polizei melden musste. 1853 wurde er sogar für vier Wochen inhaftiert und ein Jahr später dann nochmals in die Beschäftigungsanstalt Vaihingen eingeliefert. Im Januar 1856 erkrankte er schwer und 1862 verstarb er im Alter von 65 Jahren.

 

Gräter genoss am Ende seines Lebens keine große Wertschätzung. Seine Alkoholabhängigkeit überdeckte, dass er bereits in seiner Jugend für eine menschenfreundlichere und gerechtere Gesellschaft eingetreten war. 1848 war er zwar nicht der führende Kopf der Bewegung, aber er zählt zu den bedeutendsten 10 bis 15 Männern in Hall, die als Aktivisten bezeichnet werden können. Er gehörte nicht zu denjenigen Hallern, die sich dem württembergischen Obrigkeitsstaat anpassten und versuchten, Karriere um jeden Preis zu machen. Leute, die auf Personen wie ihn nur verächtlich herabschauten. Er vertrat Auffassungen und kämpfte für Werte, die für uns heute Selbstverständlichkeiten sind: Nationale Einheit, Demokratie, Republik, Volkssouveränität, Menschen- und Bürgerrechte. Darin liegt sein politisches Verdienst.

Anmerkungen:

  1. Vgl. Zum zweitenmal Gräter-Tag in Schwäbisch Hall, in: Der Haalquell 1957, S. 32.

  2. Vgl. Ingeborg Forssmann: Franz Gräter und Elizabeth Goodwin, in: Suhlenfege 1/1995, S. 11 ff.

  3. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) E 146 Bü 1955 alt, Gesuch von Franz Gräter um Wiederaufnahme als württembergischer Staatsbürger vom 9.12.1842.

  4. Ebenda.

  5. Stadtarchiv Hall (StAH), 19/348, Ratsprotokoll vom 13.2.1843, § 64.

  6. HStAS, E 146 Bü 1955 alt, Schreiben der Stadtdirektion Stuttgart an das Innenministerium vom 2.12.1843.

  7. Vgl. Otto Windmüller: Das Handwerk in Schwäbisch Hall vom Ende der Reichsstadtzeit bis zur Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1862 (= Beiträge zur südwestdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 5), St. Katharinen 1987, S. 135 ff.

  8. Vgl. HStAS, E 146 Bü 1950 alt, Petition der Haller Bürgerschaft an den König vom 5.3.1848.

  9. Haller Merkur vom 7.4.1848.

  10. Vgl. Haller Tagblatt vom 12.4.1848.

  11. Vgl. Hohenlohe Zentralarchiv Neuenstein DK 9 B 223 L55c, Amt Kirchberg, Bericht über die Volksversammlung in Künzelsau am 13.4.1848.

  12. Klaus-Peter Eichele: Traum und Fiasko des Gottlieb Rau, Leben und Zeit des Revolutionärs und Glasfabrikanten aus Gaildorf.

  13. Haller Tagblatt vom 22.4.1848.

  14. Haller Tagblatt vom 26.4.1848.

  15. Vgl. Haller Tagblatt vom 27.4.1848.

  16. Vgl. Haller Tagblatt vom 28.4.1848

  17. Vgl. StAH, 21/1902 alt.

  18. Vgl. Der Beobachter vom 30.6.1848 und 4.7.1848.

  19. Vgl. Anm. 7).

  20. Haller Tagblatt vom 9.9.1848 und 11.9.1848.

  21. Staatsarchiv Ludwigsburg, E 322 Bü 1.

  22. Vgl. HStAS, E 146 Bü 1926.

  23. Vgl. StAH, 21/1865 alt.

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